Die digitale Arbeitswelt in Zeiten von Corona
Corona hat zu einem Paradigmenwechsel in der Arbeitswelt geführt. Ob großes Industrieunternehmen, Mittelständler oder Soloselbstständige – viele Organisationen haben sich in den vergangenen Monaten im Schnellverfahren digitalisiert, Betriebe ihre Produktion umgestellt und aus der Krise eine Chance gemacht. Wir haben mit unseren beiden Expertinnen gesprochen, die sich intensiv mit Veränderungsprozessen in Organisationen beschäftigen: Johanna Lison ist bei Bayern Innovativ verantwortlich für Organisationsentwicklung und Unternehmenskultur. Dr. Imme Witzel leitet am Zentrum Digitalisierung.Bayern die Themenplattform Arbeitswelt 4.0.
„New Work“ ist in aller Munde, aber was versteht man unter „Arbeit 4.0“?
Dr. Imme Witzel: Der Begriff „Arbeitswelt 4.0“ lehnt sich an den Begriff „Industrie 4.0“ an, bezieht sich jedoch nicht nur auf industrielle Arbeitsplätze. In den vergangenen Jahren hat sich hier vor allem durch die Digitalisierung sehr viel getan – Arbeitsformen verändern sich, immer größere Datenmengen werden ausgetauscht. Die Veränderungen in der Arbeitswelt sind in vollem Gange - und die Arbeitswelt von morgen wird noch vernetzter, digitaler und flexibler sein als heute.
Johanna Lison: Ich möchte ergänzen, dass aus meiner Sicht der Begriff „Arbeitswelt 4.0“ synonym zu „New Work“ ist. Während in Europa diese Veränderungen in der Arbeitswelt unter dem Begriff „Arbeitswelt 4.0“ subsummiert werden, spricht man außerhalb Europas von „New Work.“ Das ist ein Sammelbegriff für Aspekte, die ausgehend von den Anforderungen der Digitalisierung Einfluss auf die Themenbereiche Unternehmenskultur, Führung und die Haltung der Mitarbeiter hinsichtlich der Sinnstiftung von Arbeit und der Art und Weise der Zusammenarbeit haben. Denn moderne Arbeitnehmer haben zunehmend den Wunsch, ihre Arbeit nach ihren eigenen Bedürfnissen zu gestalten.
Beeinflusst „New Work“ bereits Eure persönliche Arbeit?
Johanna Lison: Ich darf diese Aspekte von innen heraus in unserer Organisation, der Bayern Innovativ GmbH, gestalten und mitbegleiten. Das mache ich konkret durch verschiedene Formate wie Workshops, Dialogrunden oder Barcamps , um eine Lernkultur, eine Experimentierkultur zu fördern, die unterstützt Ängste abzubauen und den Mut Neues auszuprobieren steigert. Ich möchte so einen Dialog anstoßen und partizipative Beteiligung in der Belegschaft ermöglichen
Dr. Imme Witzel: Die Wirkung meiner Arbeit hingegen zielt nach außen. Die Themenplattform „Arbeitswelt 4.0“ wurde innerhalb des Zentrum Digitalisierung.Bayern vom Bayerischen Arbeitsministerium eingerichtet, um den Dialog über die Arbeitswelt von morgen zu gestalten und zu befördern. Ich bringe hier die relevanten Akteure an einen Tisch – also Unternehmen jeder Größe, Arbeitnehmer, Soloselbstständige, Plattformarbeitende, Start-ups , Verbände, Gewerkschaften und weitere Stakeholder.
Und was meint der Begriff „Arbeitswelt 4.0“ konkret?
Dr. Imme Witzel: Das bezieht sich auf die „vierte Industrielle Revolution“. Hier muss ich etwas weiter ausholen:
Die „erste industrielle Revolution“ und damit auch die Zeit der „Arbeitswelt 1.0“ ereignete sich mit der Erfindung der Dampfmaschine und mit dem industrialisierten Abbau und der industrialisierten Verarbeitung von Rohstoffen. Zu dieser Zeit begann auch die Organisation der Arbeitnehmervertretungen.
Die Zeit der „Arbeitswelt 2.0“ begann mit der Einführung der Fließbandarbeit, als Pioniere können hier sicher Henry Ford und die Automobilindustrie genannt werden. Prägend war insbesondere der zunehmende Einsatz von Arbeitnehmern für bestimmte, klar abzugrenzende Einzelschritte in der Produktion sowie die Einführung erster automatisierter Fertigungsprozesse.
Oft übersehen wird die Phase der „Arbeitswelt 3.0“, in der Elektronik, Automatisierung und die massentaugliche Anwendung von Computern eine wichtige Rolle gespielt haben.
Seit etwa Ende des 20. Jahrhunderts wird von der „Arbeitswelt 4.0“ gesprochen, die stark von der Einführung des Internets, Robotik und dem zunehmenden Einsatz von Künstlicher Intelligenz geprägt ist. Maschinen unterstützen und ersetzen menschliche Tätigkeiten, starre Arbeitsplatzregelungen lösen sich eigentlich auf. Diese Phase dauert an und wir können heute noch nicht absehen, wohin die Reise konkret gehen wird.
Johanna Lison: Kurz zusammengefasst spielen also folgende Punkte eine wichtige Rolle:
- digitale und automatisierte Geschäftsmodelle
- zeit- und ortsunabhängiges Arbeiten
- Mensch-Maschine-Interaktion
- neue Formen der Arbeit und Strukturen
- agile Organisation und veränderte Führungsstile
- Kollaboration und Auseinandersetzung mit Digital Responsibility (ethische Aspekte der Digitalisierung)
- lebensbegleitendes Lernen
Corona scheint ein Katalysator für diese Veränderungen zu sein – vieles ist Alltag geworden, was zuvor eher eine Ausnahme war. Wie nimmst Du, Imme die Veränderungen in den Unternehmen wahr?
Dr. Imme Witzel: Die digitale Transformation der Arbeitswelt ist ja kein neues Thema, wir beobachten diese seit Jahrzehnten. Diese beeinflusst insbesondere Themen wie individuelle Arbeitsorganisation, die Interaktion zwischen Akteuren im Arbeitsumfeld und auch Themen wie Mensch-Maschine-Interaktion. Die sich verändernde Arbeitsteilung zwischen Mensch und Computer führt auch dazu, dass diese uns durch KI in Routinetätigkeiten zunehmend überlegen sind. Gleichzeitig steigt der Bedarf an Wissensarbeiten und Fähigkeiten wie Kreativität und Kommunikationsfähigkeit – Problemlösungskompetenz wird immer wichtiger.
Die aktuelle Situation sehe ich als eine Art „Brennglas“ und Treiber für die Digitalisierung. Ich habe die Hoffnung, dass ihre positiven Aspekte auch bleiben werden. Allerdings sehe ich auch, dass in vielen Unternehmen der Weg noch weit ist – in der Vergangenheit waren oft die Auftragsbücher derart voll, dass das Thema Digitalisierung auf die lange Bank geschoben wurde. Die Zeit zur Schulung der Mitarbeiter und zur Umstellung der Geschäftsmodelle war oft schlichtweg nicht da. Daher gilt es jetzt umso mehr, diese Chance zu nutzen, zumal auch der Innovationsdruck gestiegen ist.
Leider nehme ich eine gewisse Reduktion des Themas auf den Bereich Homeoffice wahr – das ist aus meiner Sicht zu kurz gegriffen, da z. B. Arbeitnehmer in der Produktion und in systemrelevanten Berufen kaum von zuhause aus arbeiten können. Wir erleben derzeit, dass einige Unternehmen ihre Arbeitnehmer auch langfristig ins Homeoffice schicken. Aus meiner Sicht sollte man Homeoffice und Präsenzarbeit nicht gegeneinander ausspielen. Beides hat seine Vor- und Nachteile und seine Berechtigung. Zum Beispiel geht durch reine Arbeit im Homeoffice vieles an zwischenmenschlichem Kontakt und Kommunikation verloren.
Johanna, Du treibst das Thema bei der Bayern Innovativ voran. Wie gut waren wir auf das Arbeiten im „Lockdown“ vorbereitet?
Johanna Lison: Bayern Innovativ stellt sich der Digitalisierung seit vielen Jahren. Vom Lockdown waren wir zu Beginn besonders betroffen, da von März bis Sommer 2020 alle Präsenz-Veranstaltungen abgesagt werden mussten. Unsere Mitarbeiter sind ohnehin viel unterwegs, daher sind wir in puncto Infrastruktur glücklicherweise sehr gut ausgestattet, sowohl software- als auch hardwareseitig. So konnten alle Mitarbeiter problemlos ins Homeoffice geschickt werden, was die Geschäftsleitung auch schnell entschieden und kommuniziert hat – aus meiner Sicht ein sehr wichtiger Schritt. Der Lockdown war quasi ein Katalysator.
Wir alle haben in dieser Zeit schnell und viel gelernt. Unsere Kolleginnen und Kollegen haben zum Beispiel das Tool „Office 365“ mit all seinen Möglichkeiten sehr schnell angenommen. Mittlerweile sehen wir es als Selbstverständlichkeit, über „Teams und Co.“ zu kommunizieren. Was also Lern- und Wissenskultur angeht, war es wunderbar.
Auch die Homeoffice-Regelungen wurden zügig angepasst. Während des Lockdowns waren 90 % unserer Kolleginnen und Kollegen bis auf ein Kernteam im Homeoffice. Unter Einhaltung der Abstands- und Hygieneregelungen war es jedoch auch möglich, freiwillig vor Ort zu arbeiten. Die Arbeitsweise war zu Beginn natürlich ein wenig holprig, wir wurden alle von der neuen Situation „überfahren“. Unsere Führungskräfte mussten rasch lernen, digital Kontakt zu ihren Teams zu halten und haben hierbei auch viel Freiraum erhalten.
Natürlich haben alle Videokonferenztools genutzt und entweder 15-minütige Dailies abgehalten oder die wöchentlichen Jour fixes digitalisiert. Man hat sich zum digitalen Lunch oder zum Kaffee getroffen, um den Kontakt zu halten. Ein Team aus dem Innovationsmanagement hat seine Erfahrungen gesammelt und als Hacks mit den anderen geteilt ( lesen Sie hier das kostenfreie Whitepaper ). Wir haben auch unternehmensweite Formate angeboten, um das „Social Distancing“ zu reduzieren, um die Gesundheit am Arbeitsplatz und auch im Homeoffice zu verbessern. Wir haben Digital Coffee Brakes eingeführt, die Geschäftsführung hat Videobotschaften aufgezeichnet, wir haben unser „WissensHUNGER“-Format digitalisiert, aber auch Angebote wie Yoga und Meditation sind jetzt von zuhause aus digital abrufbar.
Und wir haben eine tolle Online-Seminarreihe „Digitales Arbeiten in Zeiten von Corona“ für unsere externen Kunden aufgesetzt und unseren Mitarbeitern als Lernformat innerhalb der Personalentwicklung angeboten. Besonders herausfordernd war die Integration neuer Kolleginnen und Kollegen, die wir online kennenlernen mussten und nicht persönlich treffen konnten.
Imme, wie unterstützt die Themenplattform Arbeitswelt 4.0 Unternehmen und ihre Mitarbeiter?
Dr. Imme Witzel: Die Online-Seminarreihe ist ein sehr schönes Beispiel für unsere eigene digitale Entwicklung in der Themenplattform. Wir haben schon vorher kleine Videoclips auf unserer Webseite veröffentlicht. Pünktlich zum Lockdown haben wir eine ganze Online-Seminarreihe aufgesetzt, weil wir akuten Bedarf gesehen haben. Zu Beginn ging es in erster Linie um das Thema Homeoffice, dann haben wir die Themen erweitert um grundlegende Aspekte des digitalen Arbeitens, also „wie moderiere ich eine Videokonferenz“, „wie sorge ich für Ergonomie im Homeoffice“, und inzwischen geht es auch um Themen wie „was ist eigentlich ein digitales Mindset“, „wie setze ich Agilität im Unternehmen um“ und vieles mehr.
Besonders gut finde ich, dass wir eine große Bandbreite an Akteuren mit unseren Online-Seminaren erreicht haben. Wir hatten Teilnehmende aus Unternehmen, aber auch aus der Verwaltung, aus Ministerien, Verbänden, viele auch inzwischen über Bayern hinaus. Die Online-Seminare sind kostenlos und haben eine Länge von etwa 45 Minuten, sind also für jedermann „machbar“. Insgesamt war die Resonanz sehr positiv.
Für mich ist die Online-Seminarreihe ein schönes Beispiel für unsere Aktivitäten der Themenplattform, die das Ziel haben, die Sensibilität für diese Themen zu schärfen und Akteure zu unterstützen. Nicht nur in Bezug auf die technischen Aspekte, sondern auch in Bezug auf „soziotechnische Themen“, also Dinge wie lebensbegleitendes Lernen, Weiterbildung, Flexibilisierung, neue Unternehmensstrukturen, Digitalisierungsstrategien und auch ethische Fragestellungen.
Die Aktivitäten der Themenplattform beschäftigen sich auch mit Fragen der KI und des Datenschutzes, mit dem Thema des „gläsernen Mitarbeiters“ und Fragen der Einbindung z. B. des Betriebsrates – das sind typische Fragestellungen, mit denen wir uns im Rahmen der Corporate Digital Responsibility beschäftigen. In der Vergangenheit haben wir das insbesondere durch Präsenzveranstaltungen getan, inzwischen bieten wir mit Onlineveranstaltungen, Videos zu New Work-Themen, Publikationen usw. ein breites Spektrum an.
Ich kann mir vorstellen, dass die Situation für viele, die vorher nicht oder kaum im Homeoffice gearbeitet haben, sehr herausfordernd ist. Wie nimmst Du das wahr, Johanna?
Johanna Lison: Es ist eine echte Ausnahmesituation – es ist ja eigentlich kein „echtes Homeoffice“, sondern ein Arbeiten von zuhause aus im Krisenmodus. Viele Eltern müssen Kinderbetreuung, Homeschooling etc. mit ihrem Job vereinbaren. Die Isolation von Alleinstehenden und die häufigen Existenzängste durch Jobverlust und Kurzarbeit sind eine Belastung, mit der nicht jeder gleich resilient umgehen kann. Gleichzeitig kann Remote Work mit den vielen virtuellen Konferenzen überfordernd sein. Man eignet sich einen Tunnelblick auf den Monitor an und vermisst die nonverbale Kommunikation, die Resonanz und Präsenz von anderen. Die Konzentration nimmt zu, das Persönliche fehlt – auf Dauer ist das anstrengend. Auch die Abgrenzung zwischen Privatem und Beruf fällt schwer, hier muss jeder auf sich selbst achten.
Und was kann man in dieser Situation tun?
Johanna Lison: Ich kann gerne berichten, was die Kollegen aus unserem Team Innovationsmanagement zusammengetragen haben: Es ist in virtuellen Konferenzen hilfreich, Gestik und Mimik einzusetzen, und nicht nur ein „Pokerface“ zu zeigen, um eine persönliche Note hineinzubringen. Auch die abwechselnde Nutzung traditioneller Kanäle – wie z. B. Telefonieren – kann sinnvoll sein, dabei entfällt die starre Konzentration auf den Monitor.
Ebenso wichtig ist eine klare Regelung zur Arbeitsorganisation und eine klare Rollenverteilung in virtuellen Konferenzen, also Moderation, Protokollführung etc. – auch Visualisierung durch Whiteboards oder PowerPoint-Präsentationen ist sinnvoll.Ich empfehle, zuhause kleine Rituale zu pflegen, um die Abgrenzung zwischen Beruf und Privatem zu verdeutlichen. Ich persönlich wechsle meine Kleidung, wenn ich den „Arbeitsplatz“ betrete und verlasse und schaffe durch regelmäßige Spaziergänge klare Zäsuren. Und ich pflege das Ritual der „positiven Dusche“ – dabei reflektiere ich über die Vorteile und Gewinne der neuen Situation. Das alles kann bei der Bewältigung sehr helfen.
Imme, welche Fähigkeiten sind für Mitarbeiter aus Deiner Sicht die wichtigsten, um mit der neuen Situation umzugehen?
Dr. Imme Witzel: Die Corona-Krise stellt hohe Anforderungen an den Umgang und die Kommunikation miteinander, man braucht bestimmte Regeln und Voraussetzungen. Viele Dinge, die in der „alten Welt“, also der Arbeitswelt vor Corona und vor der digitalen Arbeitswelt insgesamt wichtig waren, sind inzwischen gar nicht mehr opportun. Im Homeoffice zeigt sich die Bedeutung, selbstbefähigt und vernetzt zu arbeiten. Auch die sogenannten „sozialen Hard Skills“ im Umgang zwischen Mensch und Maschine, Prozesskompetenzen und die Befähigung, Lösungen und neue Ideen zu erarbeiten, sind gerade in der wirtschaftlichen Krise wichtig.
Insgesamt ist es gut, wenn Mitarbeiter ein sog. „Entrepreneurial Mindset“ mitbringen, also Ideen haben, und ihre Märkte und Kundenbedürfnisse kennen und ins Zentrum stellen. Besonders wichtig sind derzeit auch Aspekte der Führung – Vertrauen ist hier ein wichtiges Stichwort. Leider gab es da einige besonders schlimme Negativbeispiele wie die Installation von Spycams oder Massenkündigungen per Videokonferenz. Da stellt sich für eine Organisation die Frage, welches Menschenbild man eigentlich vertritt – vertraue ich meinen Mitarbeitern, oder setze ich auf Kontrolle? Auch der Umgang mit Feedback ist wichtig – beim Arbeiten auf Distanz ist das eine wichtige Frage, um gut miteinander arbeiten zu können.
Das Interview führte Dr. Kord Pannkoke, Leiter Business Development bei der Bayern Innovativ GmbH.
Hören Sie sich das vollständige Interview als Podcast an:
The new normal?
Corona hat zu einem Paradigmenwechsel in der Arbeitswelt geführt. Dr. Imme Witzel und Johanna Lison erklären in dieser Folge, warum "New Work" mehr als "nur Homeoffice" ist und wie sie Unternehmen und ihre Mitarbeiter dabei unterstützen, den Wechsel in die digitale Arbeitswelt erfolgreich zu meistern. Weitere Informationen finden Sie auch bei der ZD.B- Themenplattform "Arbeitswelt 4.0" .
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