Digitale Diagnostik und Künstliche Intelligenz
26.10.2023
Künstliche Intelligenz, sprich KI, kann in kürzester Zeit schneller als jeder Mensch große Datenmengen kombinieren und analysieren. Wie kann im Bereich der Medizin die Diagnostik diesen Vorteil für sich nutzen und wer profitiert davon?
Über den Schutz der Daten, aktuelle Einsatzmöglichkeiten der KI und was in den kommenden Jahren in der digitalen Diagnostik noch möglich ist, erfahren Sie in dem Interview mit Dr. Ilja Hagen, Clustermanager Healthcare bei der Biopark Regensburg GmbH.
Ilja, was ist eigentlich unter digitaler Diagnostik zu verstehen?
Dr. Ilja Hagen: Der Ausdruck digitale Diagnostik bezieht sich aktuell in der Regel auf den Einsatz digitaler Technologien, insbesondere Künstliche Intelligenz und Big Data Analysen zur Auswertung großer Mengen medizinischer Daten oder digitale Gesundheitsanwendungen, wie Gesundheits-Apps und Wearables.
Auch der gesamte Bereich der digitalen Bildgebung wie Computertomografie (CT), Magnet-Resonanz-Tomografie (MRT) und Telemedizin zur Fernüberwachung von Patienten gehört auch zur digitalen Diagnostik, welche vergleichsweise auch schon länger etabliert ist.
Das Ziel der digitalen Diagnostik ist immer, die medizinische Diagnose zu unterstützen und zu verbessern. Die Geschwindigkeit kann durch die digitale Diagnostik gesteigert, die Präzision oder Skalierbarkeit verbessert und die Auswertungsmethoden durch Algorithmen automatisiert werden, sodass die Arbeitsbelastung für den einzelnen Arzt oder Mediziner geringer wird.
Gibt es Anwendungsbeispiele für Bereiche in der Medizin, die aktuell von der digitalen Diagnostik profitieren?
An erster Stelle sind alle bildgebenden Verfahren zu nennen, die die Vorreiterrolle für die Anwendung der künstlichen Intelligenz einnehmen, also die Radiologie, sprich digitale Röntgenbild, Computertomographie (CT), Scans, Magnetresonanztomographie (MRT) und Ultraschallbilder. Diese erlauben hochauflösende Körperbilder, die schnelle Diagnosen und wiederholte Analysen ermöglichen.
Ein weiteres bildgebendes Verfahren, welches aber eine andere Thematik behandelt, ist aus dem Bereich Pathologie. Hier geht es um die Auswertung mikroskopischer Bilder wie Schnittbilder. Durch die neuen digitalen Analyseverfahren gibt es einerseits ein gesteigertes Volumen an Proben und Daten, andererseits stellt das einen zusätzlichen Arbeitsaufwand für den Pathologen dar. Die künstliche Intelligenz unterstützt den Pathologen bei der Auswertung, indem sie beispielsweise eine Vorauswahl bei der Zellannotierung vornimmt und sich so durch die quantitative Bildanalyse eine Präzision in der Diagnostik ergibt, die der visuellen Einschätzung per Auge deutlich überlegen ist.
Gibt es ein konkretes Beispiel, vielleicht aus dem Arbeitskreis “Digitale Diagnostik” für den Einsatz digitaler Diagnostik?
Ein regionales Beispiel aus der Gastroenterologie ist die Früherkennung von Speiseröhrenkrebs. Im Labor Regensburg Medical Image Computing (ReMIC) der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg wurde das Thema Sodbrennen bzw. Refluxerkrankung bearbeitet. Wenn der Rückfluss von Magensäure chronisch wird, dann stellt das auch eine Ursache für den Barrett-Ösophagus da. Er ist eine Gewebeschädigung der Schleimhaut, die auch ein erhöhtes Risiko für die Ausbildung von Speiseröhrenkrebs darstellt. In diesem Fall sind die Überlebenschancen für Patienten sehr schlecht, da die Erkrankung in der Regel in einem sehr späten Stadium diagnostiziert wird. Eine frühere Diagnose mittels einer endoskopischen Untersuchung ist schwierig, da die Schädigungen häufig nicht sichtbar sind. Die künstliche Intelligenz oder Deep Learning ermöglicht es dem Arzt, diese Schleimhautschädigungen idealerweise in einem Stadium zu erkennen, bevor sich dieser Krebs entwickelt hat. Das ist eine Diagnostik, die vorher nicht möglich war.
Ein zweites Beispiel aus der Kardiologie ist die textilintegrierte Sensorik vom Fraunhofer-Institut IIS in Erlangen , welches auch Mitglied im Arbeitskreis ist. Diese Technologie ermöglich ein kontinuierliches Herz-Monitoring, welches mit Hilfe KI beispielsweise eine Herzerkrankung feststellen kann, die vorher auch bei einem 24-Stunden-Elektrokardiogramm (EKG) oft unbemerkt blieb.
Gerade wegen dieser Vielfalt ist die Künstliche Intelligenz eine der Schlüsseltechnologien im Gesundheitsbereich. Bei dem Arbeitskreis “Digitale Diagnostik”, den wir gemeinsam mit Bayern Innovativ vor fast einem Jahr ins Leben gerufen haben, treffen wir uns monatlich mit Vertretern aus Forschungseinrichtungen und Unternehmen und tauschen uns zu diesem Thema aus. Es ist erstaunlich, wie unterschiedlich die Entwicklungseinsätze in der Community sind und wie wir gegenseitig voneinander lernen. Beispielsweise werden ungewöhnliche Marker in der Diagnostik genutzt, die bisher nicht Usus waren oder es wird eine Stimmanalyse zur Erkennung von Infektionskrankheiten eingesetzt. Ein weiteres Beispiel ist die Bestimmung von Vitalparametern durch eine optische Analyse des Gesichts mittels einer Kamera. All diese Parameter wären ohne KI nicht auswertbar.
Zum Thema Datenschutz und Sicherheit: Wie wird sichergestellt, das medizinische Daten bei der digitalen Diagnostik geschützt sind?
Wie bei allen anderen Daten ist auch hier die Verschlüsselung und die Zugriffskontrolle eine entscheidende Maßnahme zur Datensicherheit, die sichergestellt werden muss. Hier muss man selbst entscheiden, was für einen Aufbewahrungsort man für seine Daten möchte: eine regionale Datenbank oder eine überregionalen Cloud. Dazu kann ich aber nicht mehr sagen, da ich auf diesem Gebiet kein Experte bin.
Sensible Gesundheitsdaten sollten aber soweit möglich anonymisiert und pseudonymisiert werden. Das heißt, eine Identifizierung von Patienten ist erschwert, obwohl eben gleichzeitig die Analyse für die Diagnostik und auch für die Forschung möglich ist. Dies ist aber nicht bei allen Daten möglich, wie zum Beispiel bei genetischen Daten. Diese lassen sich quasi per Definition nicht anonymisieren, denn jeder Gen-Datensatz kann eine Person eindeutig identifiziert.
Mit dem Einsatz von KI werden aus vier Augen oder zwei Meinungen Tausende beziehungsweise Millionen, wodurch eine bessere Diagnose gestellt werden kann.
Vor dem Hintergrund der elektronischen Patientenakte ist die Patienteneinwilligung essenziell. Es muss jeden Patienten möglich sein, für sensible Befunde, zum Beispiel psychische Erkrankungen, die Freigabe zu verweigern, sodass diese nicht für jeden anderen Arzt oder Akteure im Gesundheitswesen sichtbar sind. Auf der anderen Seite wäre es für eine bestmögliche medizinische Forschung und dann entsprechend der Versorgung von Patienten hilfreich, wenn möglichst viele Daten zur Verfügung stehen würden. Nur so lernen wir dazu und neue diagnostische Verfahren können effizient entwickelt werden.
Wo unterstützt die KI die Ärzteschaft, und welche Rolle nimmt sie ein, wenn sie mit den KI-Systemen arbeitet?
Generell ist jede Form von KI in der Diagnostik ein unterstützendes Tool. Die Entscheidung der Behandlung liegt immer beim Arzt. Durch die KI ist die Möglichkeit gegeben, den Workflow zu optimieren, die Datenflut für den Arzt besser verarbeitbar zu machen oder auf Befundungen hinzuweisen, die er selbst vielleicht so nicht gesehen hätte, da ein Algorithmus, präziser, effizienter, vielleicht auch sensitiver als ein menschlicher Arzt in seiner Befundanalyse ist. Dies ist wie das übliche Vier-Augen-Prinzip oder dem Einholen einer Zweitmeinung. Mit dem Einsatz von KI werden aus vier Augen oder zwei Meinungen Tausende beziehungsweise Millionen, wodurch eine besser Diagnose gestellt werden kann.
Diese “tausend Augen” können medizinischem Personal wahrscheinlich auch entsprechend lebensrettende Hinweise auf selteneren Erkrankungen geben, bei denen sie noch keine oder geringe Erfahrung haben?
Absolut. Im Zuge der flächendeckenden Versorgung oder auch bei der telemedizinischen Versorgung kann hier die KI sehr gut unterstützen. Kein Arzt kann jeden Befund mehrfach im Jahr in jedem Krankenhaus in der Fläche gesehen haben. Wahrscheinlich würde der behandelnde Arzt auch einen Experten aus einer anderen größeren Klinik zurate ziehen oder den Patienten dorthin überweisen. Mit KI-Systemen kann eine Befundung dann schneller möglich sein.
Wie könnte die Zukunft der digitalen Diagnostik aussehen? Welche Entwicklungen oder Innovationen sind Deiner Meinung nach in den kommenden Jahren vorstellbar?
Die Integration verschiedener Datenquellen ist einer der nächsten logischen oder notwendigen Schritte. Die genannten Beispiele kommen ja immer aus einer einzelnen Indikation. Die Verbindung verschiedener diagnostischer Marker miteinander herzustellen, um eine noch bessere und noch präzisere Befundung zu erreichen, ist sicherlich der Bereich, der sich stark entwickeln wird. Dazu muss aber auch die Gesundheitsdaten Interoperabilität optimiert werden, d. h. das Zusammenspiel verschiedener Systeme muss verbessert werden. Hier sind Anbieter und Hersteller von Geräten gefragt, aber auch die Infrastruktur muss verbessert werden.
Außerdem wird die Integration bisher ungenutzter Datenquellen, also das sogenannte Quantified Self ein Thema sein. Die Menschen werden sicherlich in Zukunft noch mehr tragbare Geräte verwenden und ihre Gesundheit und Aktivität überwachen, sodass dann die Daten auch diagnostisch verwertet werden können und Frühwarnungen für gesundheitliche Probleme ermöglicht werden.
Ein weiterer Schritt ist die Verbesserung der personalisierten Medizin. Um eine zunehmend wirklich personalisierte Gesundheitsversorgung zu ermöglichen, ist es erforderlich, die Kombination von Diagnostik mit verschiedenen Omik-Wissenschaften wie die Genomik herzustellen. So kann die Prädisposition eines Patienten für bestimmte Erkrankungen erkannt werden und Behandlungspläne aufgrund seines diagnostischen und genetischen Profils individuell abgestimmt werden.
Die Frühdiagnostik und die prädiktive Diagnostik sind sicherlich Herausforderungen, die noch am weitesten in der Zukunft liegen. Beim Erkennen von Krankheiten, bevor diese ausgebrochen sind, kann die KI derzeit kaum helfen. Als Beispiel wären hier neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer, Parkinson, Demenz oder Multiple Sklerose genannt. Der Krankheitszustand ist erst bekannt, wenn die Krankheit eingetreten ist. Es stellt sich also die Frage, wie ich bei einem Menschen erkennen kann, dass sich zum Beispiel seine Bewegungsmuster verändert, bevor er Parkinson bekommen hat. Es gibt auch hier Möglichkeiten, KI entsprechend zu trainieren, aber das ist noch ein langer Weg. Sehr, sehr große Datenmengen und sehr, sehr viele Patienten sind nötig, um an dieser Stelle tatsächlich zu aussagekräftigen Algorithmen zu kommen.
Das Interview führte Dr. Petra Blumenroth, Projektmanagerin Technologie I Frugale Innovation bei der Bayern Innovativ GmbH.
Haben Sie Fragen zum Thema oder zum Arbeitskreis “Digitale Diagnostik”, dann sprechen Sie mit unserer Expertin Julia Ott.
Hören Sie sich das vollständige Interview als Podcast an:
Zukunft der Medizin: Digitalisierte Diagnostik im Fokus (23.10.2023)
Künstliche Intelligenz kann in kürzester Zeit schneller als jeder Mensch große Datenmengen kombinieren und analysieren. Wie kann im Bereich der Medizin die Diagnostik diesen Vorteil für sich nutzen und wer profitiert davon? Über den Schutz der Daten, aktuelle Einsatzmöglichkeiten der künstlichen Intelligenz und was in den kommenden Jahren noch möglich ist in der digitalen Diagnostik spricht Dr. Petra Blumenroth mit Dr. Ilja Hagen, Clustermanager Healthcare bei der BioPark Regensburg GmbH.
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