Digitale Produktion für große Variantenvielfalt: flexibel und modular

17.04.2023

Produkte werden heutzutage immer variantenreicher und individueller. Für die industrielle Fertigung wachsen die Anforderungen, die Produkte effizient zu fertigen und schnell auf sich verändernde Marktbedingungen zu reagieren. Entsprechend rapide steigt die Nachfrage nach flexiblen Produktionslösungen, die sich möglichst autonom an die neuesten Marktanforderungen anpassen. Wandlungsfähige und modulare Produktionssysteme sollen es ermöglichen, auch bei großer Variantenvielfalt effizient zu produzieren - sogar bis zur Losgröße 1. Unterstützt wird die Produktion durch digitale Lösungen, die bereits an vielen Stellen zum Einsatz kommen.

Mit der Frage, wie diese in der Praxis aussehen können, beschäftigte sich das Webinar „digitale Produktion für große Variantenvielfalt: flexibel und modular“ der ZD.B Themenplattform Digital Production & Engineering von Bayern Innovativ in Zusammenarbeit mit dem KI-Produktionsnetzwerk Augsburg im Februar 2023.

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Audi plant modulare Montage

Für Aufsehen hat kürzlich die Ankündigung der Firma Audi gesorgt, dass aufgrund der hohen Prozess- und Bauteilvarianz die traditionelle Fließbandfertigung teilweise durch eine modulare Montage ersetzt werden soll (Quelle: https://www.audi-mediacenter.com/de/pressemitteilungen/smart-production-wie-audi-die-produktion-der-zukunft-gestaltet-14786 ). Die Bekanntmachung verdeutlicht, dass solche auch als Matrixproduktionssysteme bezeichneten Ansätze nicht nur eine Spielwiese der wissenschaftlichen Forschung darstellen, sondern in der realen Unternehmenswelt angekommen sind. Die Frage, die sich stellt, wie gehen nicht nur so große Unternehmen wie Audi mit der zunehmenden Variantenvielfalt um, sondern ganz konkret der Mittelstand, der sicherlich noch nicht alle Möglichkeiten der Digitalisierung ausgeschöpft hat.

Variantenvielfalt im produzierenden Mittelstand: Ursachen und potenzielle Lösungsansätze

Prof. Dr.-Ing. Peter Wurster, Professor für Produktionssystematik, Hochschule für angewandte Wissenschaften Kempten, startet seinen Vortrag mit einem Blick auf die Anfänge der Fließproduktion. Der Automobilbauer Ford gilt als eines der ersten Unternehmen, welches die Fließfertigung für das Ford Modell T im Jahr 1914 in Detroit eingeführt hat. Hier versprach man sich höchste Produktivität bei der Herstellung in sehr großen Stückzahlen. Doch einige Jahre später sagte Henry Ford „Bei mir kann jeder Kunde ein Auto in jeder gewünschten Farbe haben, solange diese Farbe schwarz ist.“ Hintergrund des Zitats: Schwarz war die einzige Farbe, die schnell genug getrocknet ist, um sie in den bestehenden Takt integrieren zu können.

Heute stellt sich die Automobilproduktion anders dar. So waren im Jahr 2021 bereits 1037 Produktvarianten auf der Fertigungslinie des Audi A3 konfigurierbar. Aus dieser immens großen Zahl ergibt sich eine sehr hohe Komplexität des Produktionssystems. Es stellt sich die berechtigte Frage, warum so viele Modelle individuell konfiguriert werden können. Hier nennt Professor Wurster vier Faktoren: Erstens die Differenzierung vom Wettbewerb durch die steigenden Kundenindividualisierungswünsche. Zweitens: Produktlebenszyklen werden durch disruptive Technologien immer kürzer. Diese provozieren sprunghafte Verschiebungen des Modell-Mixes. Dritter Punkt sind die steigenden globalen Unsicherheiten, die sich durch politische Rahmenbedingungen, die Abhängigkeiten von Lieferketten oder zerstörerische Umweltkatastrophen ergeben. Unternehmen müssen sich die Standortfrage stellen und ob sie eine robuste und resiliente Produktion über die Effizienz stellen. Viertens führt der Trend zur Nachhaltigkeit dazu, dass Unternehmen einen großen Teil ihrer Produkte in jedem ihrer Werke weltweit herstellen, um möglichst nah am Zielmarkt produzieren zu können. Insgesamt festhalten lässt sich, dass die Steigerung der Variantenvielfalt als dauerhaftes Phänomen angesehen werden kann und zu einem Umdenken hinsichtlich der angewandten Produktionssystematiken führt.

Neue Verfahren in der Fertigung

Eine Fließfertigung, bei der jeder Montageschritt in einer vorgegebenen Abfolge erfolgt, ist ungeeignet, um viele Varianten zu produzieren, wie das eingangs genannte Beispiel von Ford zeigt. Dazu ist die Linie zu starr. Wie lässt sich also diese Variantenvielfalt in der unternehmerischen Praxis und vor allem im Mittelstand umsetzen? Besonders in der hybriden Montage liegt die Zukunft für die mittelständischen Unternehmen, so die Einschätzung von Prof. Wurster und seinem Forschungsteam. Die hybride Montage stellt eine Mischform aus Matrix und Linie dar und wird in der untenstehenden Abbildung veranschaulicht. Die klassische Matrixproduktion besteht aus individuellen Arbeitsstationen, die über einen flexiblen Materialfluss und ohne vorgegebene Taktbindung miteinander verbunden sind. Die räumliche Anordnung der Stationen kann dabei einer Matrix ähneln. In Kombination mit der Fließproduktion lässt sich so höchste Produktivität trotz Variantenvielfalt sicherstellen, weil durch Varianten bedingte Stillstandszeiten vermieden werden können. Außerdem wird das Fertigungspersonal entlastet, denn die reine Fließproduktion erlaubt keine produkt- oder mitarbeiterbedingten Abweichungen vom vorgegebenen Takt. Nacharbeitsbedürftige Produkte müssen nicht mehr durch die gesamte Linie geschleust werden, sondern können stattdessen aufgrund des flexiblen Taktes vor Ort nachgearbeitet werden oder alternativ aufgrund der flexiblen Pfade jederzeit ausgeschleust werden. Weiterer Vorteil der hybriden Produktion: Kapazitäten lassen sich einfacher erweitern und die Abhängigkeit von Teilelieferungen ist geringer. Die Produktionsanlage wird insgesamt resilienter.

Hybride Montage

Möglichkeiten der Digitalisierung nutzen

Neben der Gestaltung der Fertigungslinien für eine variantenreiche Produktion lassen sich  aus dem Umfeld der Digitalisierung zahlreiche Maßnahmen einsetzen. So unterstützen digitale Tools das Fertigungspersonal beispielsweise beim Umrüsten der Maschinen oder im Bereich der Produktionssteuerung. Auch bei der Qualitätssicherung oder bei Logistikprozessen finden sich Lösungen. Besonders fahrerlose Transportsysteme spielen hier eine wichtige Rolle. Sie sorgen dafür, dass Materialien in Echtzeit bereitgestellt werden können. Viele große Unternehmen nutzen bereits heute die Vorteile hybrider Fertigung und stellen die Resilienz über die Produktivität. Die bei ihnen eingesetzten Maßnahmen können Vorbild für den Mittelstand sein. In diesem Zug lädt Prof. Wurster interessierte Führungskräfte aus dem Produktionsumfeld zu einer zweitägigen Konferenz im Oktober 2023 ein, um genau diese Maßnahmen zu diskutieren. Mehr zu dieser Veranstaltung gibt es unter www.summit-allgaeu.de.

Durchgängige Automatisierung von Produktentwurf, Fertigungs- und Prozessablaufplanung

Die Komplexität heutiger Produkte und damit einhergehend des gesamten Entwicklungsprozesses stellt zunehmend höhere Anforderungen an die Unternehmen. Gleichzeitig werden die Entwicklungszyklen kürzer und das Fachpersonal weniger. Am Beispiel des Entwurfes von Komponenten für einen Hubschrauber stellt Steffen Geinitz vom Fraunhofer-Institut für Gießerei-, Composite- und Verarbeitungstechnik IGCV die Entwicklungsmethodik der graphenbasierten Entwurfssprachen dar. Außerdem zeigt er deren Potenzial für einen durchgängigen und automatisierten Entwicklungsprozess vom Design bis zum Line Balancing in der Produktion auf.

Kleine Änderung, große Wirkung

Ob Produkte oder Infrastruktur – alles wird immer komplexer und damit variantenreicher. Bereits kleine Änderungen können große Effekte nach sich ziehen mit Auswirkungen auf Produkte und Produktionsprozesse. Schon im frühen Stadium der Entwicklung geht es darum, die richtigen fundierten Entscheidungen zu treffen. Und Varianten so detailliert auszuprägen, dass sie für Planungen genutzt werden können. Zum Einsatz kommt hier die graphenbasierte Entwurfssprache als Teil des System-Engineerings. Besonders in der Luftfahrt wird viel mit Modellen gearbeitet, um komplexe Zusammenhänge zu beschreiben und die hohen Anforderungen zu erfüllen. Dazu werden Regeln definiert und von einer Software nach dem Wenn-Dann-Prinzip in eine sinnvolle Reihenfolge gebracht.

Optimierte Prozesse durch Modellierung in früher Designphase

Konkret beschrieben wird diese Modellierung am Projekt Cobain. Dabei geht es darum, die nächste Generation einer Hubschrauberzelle zu entwickeln. Ziel ist es, die unterschiedlichen Disziplinen vom Design über die Einzelteilfertigung bis zum fertigen Produktentwurf bereits in der Frühphase der Produktentwicklung zusammenzubringen. Der Montagegraph dient hierbei als Input und definiert, welcher Arbeitsschritt wann ausgeführt wird. Damit lassen sich später die Durchlaufzeiten minimieren, die Arbeitsbelastung gleichmäßig verteilen und die eingesetzten Ressourcen optimieren. Vorteil des gewählten Verfahrens: Es können beliebig viele Varianten berechnet und optimal in die Prozesse integriert werden. Eine weitere Anwendung ist die Entwicklung eines Bauteils für einen Luftfahrttaxi-Hersteller. Hier wurden unterschiedliche Materialien und Fertigungsgrößen betrachtet und Umweltfaktoren mit einbezogen. Zudem lassen sich im Sinne der Circular Economy beispielsweise Recycling-Routen für Composite-Bauteile aufzeigen. So kann der Hersteller letztendlich entscheiden, wie grün sein Produkt über die Vorgaben hinaus werden soll.

Ausblick für den Mittelstand

Für kleine und mittelständische Unternehmen wird es beim Einsatz dieses Verfahrens zukünftig darum gehen, die geeigneten Partner für die Definition und Umsetzung von Anforderungen, Parametern und der Modellbildung zu finden. Denn um schon in der Designphase eine Performance-Verbesserung zu erzielen, benötigt es einen regelbasierten Entwurfsprozess, einen Design-Compiler zur effizienten Ausprägung der Varianten sowie die entsprechenden Bewertungsmodelle für die betrachteten Domänen. Bayern Innovativ steht hier als Netzwerker bei der Vermittlung der entsprechenden Ansprechpartner gerne zur Verfügung

KI-Produktionsnetzwerk – Ein Ausblick auf die modulare Produktion in Augsburg

Das nun von Dr. Andreas Hackner, Bayern Innovativ, vorgestellte Projekt des KI-Produktionsnetzwerks Augsburg beruht auf einer Vorstudie aus dem Jahr 2019. Hier wurden 30 vor allem mittelständische Unternehmen zu den Themen Künstliche Intelligenz und Digitalisierung befragt. Ziel war es, den Produktionsstandort Augsburg durch die Nutzung neuer disruptiver Technologien, wie z.B. die verschiedenen Methoden der KI, fit für die Zukunft zu machen. Ergebnis der Studie war, dass es den meisten Unternehmen an Daten fehlt, beziehungsweise diese nur in geringer Qualität vorliegen. Darüber hinaus wurden fehlende Kapazitäten und mangelndes Know-how festgestellt, um KI in der Produktion umzusetzen. Daraus hat sich eine Initiative gebildet mit dem Ziel, die Unternehmen genau dabei zu unterstützen. Unter Federführung des bayrischen Wirtschafts- sowie des Wissenschaftsminsteriums sind im KI-Produktionsnetzwerk Augsburg zahlreiche Partner aus Forschung und diversen Netzwerken, zu denen auch Bayern Innovativ gehört, vereint. Insgesamt werden, insbesondere von den Forschungspartner 12 verschiedene Themenfelder zu zahlreichen Fragestellungen der Produktion bearbeitet.

Erste Projekte erfolgreich umgesetzt

Ein Projekt daraus zeigt beispielsweise, wie eine KI-gestützte Optimierung der Kühlanlagentechnologie im Glasanlagenbau mit Hilfe eines digitalen Zwillings umfassend Ressourcen sparen kann. Initiiert wurde auch eine Forschungsinfrastruktur in Augsburg, die den Namen „Halle 43 - Future Fabrication" trägt und voraussichtlich im zweiten Quartal 2023 eröffnet wird. Auf über 5300 Quadratmetern wird es Möglichkeiten geben, unterschiedliche neue Entwicklungen im Industriemaßstab und unter möglichst praxisnahen Bedingungen zu testen. Besonders spannend: Man will hier die lineare Produktion hin zu einer flexiblen und modularen Produktion durchbrechen. Dazu werden verschiedene Inseln installiert, zwischen denen sich Produkte ihren Weg durch eine sinnvolle Fertigung suchen.

Technologien zum Anfassen und Ausprobieren

Ausgestattet ist die Halle mit vielfältigen Technologien, unter anderem mit CNC-Maschinen, Robotern, Computertomographen, additiver Fertigung und Komponentenprüfung. Doch wie können Unternehmen daran teilhaben? Das funktioniert über verschiedene Kooperationsmöglichkeiten, die von den Forschungspartnern beispielsweise über Förderprogramme angeboten werden. Interessierte haben bereits vor der Eröffnung die Möglichkeit, die Halle digital unter www.tour.kipronet.uni-augsburg.de zu betreten, um sich selbst ein Bild zu machen.

Die Webinarreihe „Aus der Forschung in die Praxis“

In dem Veranstaltungsformat der ZD.B Themenplattform Digital Production & Engineering von Bayern Innovativ geben Forschungseinrichtungen und Unternehmen Einblicke in aktuelle Forschungsaktivitäten und diskutieren diese mit den Teilnehmenden. Ziel ist es, vor allem kleine und mittelständische Unternehmen dabei zu unterstützen, digitale Technologien in ihren Produktionsprozessen und in ihrem Engineering sinnvoll zu nutzen.

Kontaktdaten der Referierenden

  • Prof. Dr.-Ing. Peter Wurster ,  Professor für Produktionssystematik, Hochschule für angewandte Wissenschaften Kempten. Per E-Mail kontaktieren
  • Steffen Geinitz ,  Senior Business Developer – Advanced Composite Solutions, Fraunhofer-Institut für Gießerei-, Composite- und Verarbeitungstechnik IGCV. Per E-Mail kontaktieren
  • Dr. Andreas Hackner ,  Projektmanager Technologie, Bayern Innovativ GmbH, Augsburg. Per E-Mail kontaktieren

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